UNBEQUEME ERINNERUNGEN AN NS-VERBRECHEN UND UNMENSCHLICHE GLEICHGÜLTIGKEIT
Freiwillige der KZ-Gedenkstätteninitiative bewahren die Leiden der Zwangsarbeiter von 1944 und 1945 vor dem Vergessenwerden
Für viele ist die Nazi-Diktatur unsagbar weit weg, kaum noch nachvollziehbar. Und doch muss man nur einen Blick in die Hasskommentare im Internet, auf populistische Realitätsverweigerer und Tatsachenverdreher oder auf die rechtsextremen Gewalttaten der letzten Jahre werfen, um eine Ahnung davon zu bekommen, in was für einem gesellschaftlichen Umfeld die Nationalsozialisten ihre Verbrechen begehen konnten. Auch in Leonberg. Sogar in direkter Nachbarschaft zur heutigen Alten Schuhfabrik.
In seiner Satzung bekennt sich der Verein Kulturfabrik Leonberg e.V. unter anderem auch zu internationaler Zusammenarbeit und Völkerverständigung. Wir haben uns daher einer jener Gruppenführungen auf dem „Weg der Erinnerung“ angeschlossen, mit denen Freiwillige der 1999 gegründeten KZ-Gedenkstätteninitiative Leonberg (KZGIL) das Andenken an die aus fast ganz Europa zusammengetriebenen Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft vor Ort wach halten.
An einem Sonntagvormittag Ende Oktober treffen wir uns mit rund einem Dutzend interessierter Frauen und Männer vor dem Alten Friedhof an der Seestraße, der ersten von fünf Stationen auf dem „Weg der Erinnerung“. KZGIL-Mitglied Holger Korsten verteilt laminierte Schilder mit aufgedruckten Nummern von damaligen KZ-Häftlingen und fasst stichwortartig die politische Lage vor 79 Jahren zusammen: Im Herbst 1944 war die Nazi-Diktatur an allen Fronten in der Defensive. Gleichzeitig füllten sich zwei eilends in der oberen Seestraße in Leonberg errichtete „Arbeitslager“ mit immer mehr Häftlingen. Gefangene und Verfolgte aus 24 europäischen Ländern, darunter viele Polen, Russen und Ukrainer, aber auch Franzosen, Italiener und verfolgte Deutsche, mussten seit Mitte September 1944 unter unmenschlichen Bedingungen im alten Engelbergtunnel Tragflächen für den ersten seriengefertigten Düsenjäger ME 262 zusammenbauen. Dieser war Teil des „Wunderwaffen“-Programms“, von dem sich das Regime noch den „Endsieg“ im Zweiten Weltkrieg erhoffte. Laut Holger Korsten gingen seit Dezember 1944 Hunderte der insgesamt 5.000 Häftlinge an den katastrophalen Hygiene- und Haftbedingungen zugrunde. Aus einem Massengrab am Blosenberg wurde ein Teil der gestorbenen Lagerinsassen erst auf Anordnung der französischen Militärregierung nach Kriegsende zur Bestattung auf den Alten Friedhof umgebettet. Korsten zeigt auf den großen Gedenkstein auf dem Friedhof: „Hier steht nichts von Zwangsarbeitern, man könnte meinen, die Toten seien Soldaten gewesen.“
Zweite Station ist ein Bauernhof. Er markiert heute noch die Stelle, an der die Seestraße damals durch ein Tor der SS gesperrt war. Ein perfides System der Aufsichtsdelegation an einzelne „Funktionshäftlinge“ habe dafür gesorgt, dass nur 120 SS-Aufseher mehrere tausend Gefangene in Schach halten konnten, so Holger Korsten. Wo früher die Baracken des sogenannten „neuen Lagers“ standen, befindet sich heute das Samariterstift, die dritte Station auf dem Weg.
Im Vorraum eines Seiteneingangs des Samariterstifts versammelt sich die Gruppe um ein Modell des KZ Seestraße. Die Teilnehmer/innen stellen Fragen, es wird engagiert diskutiert. Holger Korsten ruft wie an jeder Station eine der ausgegebenen Häftlingsnummern auf. Der jeweils angesprochene Teilnehmer liest den auf der Rückseite des Schilds aufgedruckten Bericht vor. So erfahren die Besucher von erschütternden Häftlingsschicksalen, darunter ein deportierter Ukrainer, ein frommer Jude und ein 15-jähriger Résistance-Angehöriger. Sie erfahren auch von den sehr, sehr wenigen Leonbergern, die nicht gleichgültig wegschauten, sondern heimlich und mit dem Risiko drakonischer Strafen einzelnen Häftlingen halfen. Eine dieser mutigen Menschen war die 1980 mit dem Bundesverdienstkreuz geehrte Margarete Stingele, nach der ein Weg in Leonberg benannt ist.
An der Ecke Römer-/Seestraße, der vierten Station, war der von einem Wachturm gesicherte Ausgang des „alten Lagers“. Ein Teilnehmer verliest den Bericht eines Überlebenden: Frühmorgens im Winter wurden die Häftlinge in Fünfer-Kolonnen unter Schlägen, unterernährt und mangelhaft bekleidet zur Zwangsarbeit in die nahe gelegenen Tunnelröhren getrieben. Auf den Spuren der Gepeinigten erreicht die Gruppe die fünfte und letzte Station, den ehemaligen Autobahntunnel.
„Unsere Aufgabe ist es, den von den Nazis zur bloßen Nummer herabgewürdigten Häftlingen ihre menschlichen Namen zurückzugeben“, erklärt Holger Korsten vor der großen rostbraunen Namenswand auf dem Vorplatz des alten Autobahntunnels. Die eigentliche Gedenkstätte befindet sich in den letzten 30 Metern des ersten deutschen Autobahntunnels, die nicht mit Aushub vom A 8-Ausbau vor wenigen Jahren verfüllt wurden. Drinnen erläutert Holger Korsten unter anderem die Landraub- und Vernichtungspolitik der Nazis, die sogar von einem einheimischen Amtsarzt attestierten „unhaltbaren“ sanitären Zustände in den Lagern und die Mitverantwortung von Industriellen wie Messerschmitt für die Gräueltaten.
Nach rund drei intensiven Stunden müssen die meisten das Gesehene und Gehörte erst einmal verarbeiten. An einem Büchertisch liegt weiterführende Literatur aus. Sicher lohnt es sich, bei Gelegenheit wiederzukommen, die ausführlichen Tafeln zu studieren und den in Leonberg gequälten und ermordeten internationalen Opfern von Nazi-Terror und -Krieg eine stille Ehre zu erweisen.