„Eine Stadt ohne lebendige Kulturszene ist tot“

Interview: Der Maler Matthias Keller über die Gründung des Vorläufers der heutigen VHS-Kunstschule und seine Zeit in der alten Schuhfabrik

„Eine Stadt ohne lebendige Kulturszene ist tot“

 

Matthias Keller. Foto: privat

Herr Keller, wie geht es Ihnen als Künstler in diesen nicht enden wollenden Corona-Zeiten?

Matthias Keller: Unterschiedlich. Die eigene Zeiteinteilung in der Isolation kommt mir entgegen. Ich sag immer, ich komm mir vor wie ein Mönch auf Zeit. Das war eigentlich schon immer ein Wunsch von mir: Ich wollte immer mal ins „Kloster auf Zeit“. Jetzt bin ich da auf andere Weise hingelangt. Die Zurückgezogenheit hat meine persönliche künstlerische Arbeit enorm vorangebracht. Ich bin ja Frühaufsteher und arbeite, bis ich müde bin. Aber Isolation auf Dauer ist natürlich auch nicht gut: keine Ausstellungen, keine Treffen mit Freunden …

… und auch kein Kunstunterricht mehr? Sie haben doch in Leonberg seinerzeit die Jugendkunstschule gegründet, war die Kunstpädagogik nicht immer ihr Steckenpferd?

Ja. Mit meinen Kunstschülern mache ich momentan Homeschooling. Das kann ich mir in meinem Fach gut einteilen. Was ich aber auch erlebe, sind geradezu sintflutartige Überfälle meiner Schüler auf mein E-Mail-Konto, wenn sie mir ihre Arbeiten schicken. Die muss ich alle bearbeiten, bewerten und anschließend mit ihnen besprechen. Auf digitalem Weg kostet das alles sehr viel Zeit.

Wie war das eigentlich damals, als Sie in Leonberg mit dem Kunstunterricht angefangen haben?

Das war nach unserem Auszug aus der alten Schuhfabrik 1987. Ich hatte da ja sechs Jahre lang zusammen mit anderen mein Atelier. Der damalige Leonberger Kulturamtsleiter Dr. Wulff hat mir danach vorgeschlagen, ein Konzept für eine Jugendkunstschule zu entwerfen. Da ich´s nicht so mit Konzepten habe, habe ich die Jugendkunstschule gleich selbst eröffnet.

Wo und was haben Sie unterrichtet und wer war noch dabei?

Mit den ersten Kursen haben wir im ersten Halbjahr 1988 angefangen. Dazu wurden uns zwei Unterrichtsräume mit kleinem Büro in der Schulbaracke im Hof des Albert-Schweitzer-Gymnasiums zugewiesen. Die Baracke war extra für die geburtenstarken Jahrgänge errichtet worden. Mir fielen die Leitungsaufgaben zu, aber ich habe auch selbst Malkurse gegeben. Die etwa zehn Kursleiter habe ich unter meinen damaligen Mitstudenten der Stuttgarter Kunstakademie und ausgebildeten Künstlern angeworben. Zum Beispiel hat Heide Biehlmeier, die Schwester des Leonberger Malers und Bildhauers Hans Daniel Sailer, damals einen Töpfer-Kurs gegeben.

Wie haben Sie sich finanziert?

Die Kunstkurse liefen über die Volkshochschule und meine Stelle wurde durch eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme bezahlt. Damit konnte man aber keine Familie ernähren.

Warum haben Sie der Jugendkunstschule wieder den Rücken gekehrt?

Das Problem war, dass ich immer vor Kursbeginn und zur Planung des neuen Semesters viel zu organisieren hatte. Sobald die Kurse liefen, hätte ich durch eine flexiblere Arbeitszeit konstruktiver arbeiten können, musste aber präsent sein und meine Zeit absitzen. Wenn man mir ein bisschen mehr Freiheit gegeben hätte, hätte ich diese „Leerlaufzeiten“ zum Beispiel für den Besuch anderer Kunstschulen, für das Treffen beziehungsweise Anwerben neuer Dozenten und teilweise für meine künstlerische Arbeit nutzen können. Aber meine Versuche, mit der Stadt und der VHS über gleitende Arbeitszeiten zu verhandeln, blieben ohne Ergebnis. Deshalb und aus finanziellen Gründen bin ich im September 1989 ausgestiegen. Meine Nachfolgerin hatte bei der Arbeitszeitregelung mehr Erfolg.

Wenn Sie heute auf Ihre Gründung zurückblicken, würden Sie sagen, Sie haben dennoch etwas erreicht?

Ja, denn es gibt die Jugendkunstschule heute immer noch, wenn auch unter verändertem Namen als VHS-Kunstschule. Wenn Sie auf einzelne Schüler anspielen: Spontan fällt mir eine ehemalige Kunstschülerin ein, die heute am Zentrum für Kunst und Medien, dem ZKM in Karlsruhe, arbeitet. Bei der haben meine Kurse sicher Spuren hinterlassen. (schmunzelt)

Sie haben vorhin erwähnt, dass Sie vor der Schulgründung zusammen mit anderen in der alten Schuhfabrik künstlerisch aktiv waren. War es Ihre Idee, dort Räume für Ateliers anzumieten?

Nein, die Initiative ging von Bernd Mack und zwei, drei anderen Kunststudenten aus Stuttgart aus. Diese haben in Leonberg rumgefragt, wer noch ein Atelier braucht. 1981 haben wir dann auf eigene Kosten das zweite Obergeschoss der alten Schuhfabrik renoviert und dort Ateliers eingerichtet. Da ich in Leonberg aufs Kepler-Gymnasium gegangen bin, hat mich mein früherer Kunsterzieher Wolfgang Schäfer angesprochen, ob wir zusammen ein Atelier mieten wollen. Ich war damals 21 Jahre alt und hatte gerade angefangen, an der Kunstakademie in Stuttgart zu studieren. Weil ich weiter in Leonberg in der Keplerstraße wohnte, war es für mich praktisch, zum Malen nicht immer nach Stuttgart fahren zu müssen.

Welche Erinnerungen haben Sie noch an diese Zeit?

Nach den ersten Ausstellungen haben wir den „Glaskasten e.V.“ gegründet, damit wir Zuschüsse von der Stadt bekommen konnten.

Der Name „Glaskasten“ steht ja immer noch auf dem Klingelschild am Hofeingang und über der Zugangstür vom hinteren Treppenhaus. Wieso haben Sie den Verein eigentlich Glaskasten genannt?

Gibt es noch dieses verglaste Abteil in einem der Räume im zweiten OG?

Ja, wo Sie es sagen …

Sehen Sie, danach haben wir unseren Verein benannt. Wir haben diesen Glaskasten damals so belassen, wie wir ihn vorgefunden haben.

Wer war außer Ihnen noch im Glaskasten-Verein aktiv?

Da waren zum Beispiel der Bildhauer und Maler Johannes Kares, der Maler, Grafiker und Holzschnitt-Künstler Rolf Hausberg, der Goldschmied Konrad Hoog, die Malerin und Hutmacherin Charlotte Scheffel, der Siebdrucker Sebastian Klotz, der Kunstmaler Jochen Stahl, Erich Härtig und der schon erwähnte Wolfgang Schäfer.

Aus künstlerischer Sicht betrachtet: Welche Bedeutung hatte für Sie Ihre aktive Zeit in der alten Schuhfabrik?

Eine sehr, sehr große Bedeutung. In der alten Schuhfabrik ist der Grundstein für meine heutige künstlerische Tätigkeit gelegt worden. Ich war damals der Jüngste und konnte mir bei den Älteren Ratschläge holen. Vor allem bei Johannes Kares, den ich heute als meinen wichtigsten Lehrmeister betrachte. Handwerklich habe ich viel von Rolf Hausberg gelernt. Wir haben viel gearbeitet und tolle Feste gefeiert, die sich bis nach Stuttgart und Tübingen rumgesprochen haben. Wir hatten Theaterleute und Musiker zu Besuch. Pro Jahr haben wir bis zu neun Ausstellungen gemacht, auch mit auswärtigen Künstlern, die damals noch unbekannt waren und heute teilweise große Namen haben.

War der Fabrikbesitzer auch mal unter den Gästen?

Ja, an Erich Hägele erinnere ich mich als wär´s ein Film. Er war ein echter, aufrichtiger schwäbischer Fabrikant, der immer alles sehr genau genommen hat, aber zugleich immer ein offenes Ohr für uns hatte. Er kam zu jeder Vernissage mit Begleitung, war am Anfang skeptisch, dann stolz darauf, was wir da veranstaltet haben und dass so viele Leute kamen.

Wenn das so war, warum haben Sie später Ihr Atelier in der Schuhfabrik aufgegeben?

Da kamen mehrere Dinge zusammen. Irgendwann haben die Veranstaltungen so dermaßen viel Arbeit gemacht, dass ich nicht mehr zu meiner eigenen Arbeit gekommen bin. Ich hab ja praktisch nebenan gewohnt, sodass alle von mir erwartet haben, dass ich dies und das mal schnell erledigen kann. Dann gab es auch Auseinandersetzungen. Die Arbeit war ja unentgeltlich, und die Zuschüsse von der Stadt zu knapp. Das hat der Kulturamtsleiter Dr. Wulff auch erkannt. Aber er kam zu spät. Da hatten wir alle schon gekündigt. Inzwischen waren Frederick Bunsen, András Márkos und andere nachgerückt.

Wie blicken Sie aus der Entfernung auf das heutige Engagement für Erhalt und Sanierung der Schuhfabrik und für ein gemeinsames „Kulturareal Steinstraße“ aus Schuhfabrik und Steinturnhalle?

Sie werden lachen: Es gab schon mal ähnliche Bestrebungen. Der Leonberger Architekt und Stadtplaner Helmut Adalbert Erdle hat dafür vor Jahren phantastisch schlüssige Entwürfe präsentiert, die aber alle abgelehnt wurden. Ich selbst habe damals parallel zu meiner Arbeit im Glaskasten auch Theatertage in der Spitalschule und teilweise in der Steinturnhalle veranstaltet. Man muss die politisch Verantwortlichen immer wieder darauf aufmerksam machen, dass Kultur und Kunst nicht von selbst entstehen, sondern dass dahinter Leute vor Ort stehen, die Zeit und Raum brauchen, um sich zu entwickeln. Und es ist doch so: Eine Stadt ohne lebendige Kulturszene ist tot. Insofern finde ich das aktuelle Engagement eine tolle Sache. Auch wenn ich inzwischen ziemlich weit weg lebe: Wenn ich etwas zur Unterstützung beitragen kann, dann tue ich es!

Die Fragen stellte Chris Heinemann, Foto: privat

 

Zur Person

Matthias Keller, Jahrgang 1960, ist in Leonberg geboren und aufgewachsen. 1980 bis 1986 studierte er an der Stuttgarter Kunstakademie Malerei, parallel Kunstgeschichte an der Universität Stuttgart. Seit November 2018 lebt und arbeitet der freischaffende Maler und Kunstpädagoge in Friedrichshafen am Bodensee.

Künstlerischer Werdegang

Seit 1982 zahlreiche Gruppen- und Einzelausstellungen im In- und Ausland, unter anderem in Kroatien, Österreich und Nepal. Bilder und Objekte von Matthias Keller finden sich in privaten und öffentlichen Sammlungen, zum Beispiel auch in Leonberg.

Matthias Keller im Netz

https://matthiaskeller.wixsite.com/matthias-keller

Wer Interesse hat, aktiv an der Umsetzung der genannten Ziele mitzuarbeiten und/oder die Arbeit des Vereins passiv durch finanzielle oder materielle Zuwendungen zu unterstützen, kann dies per E-Mail mitteilen an: info@kulturfabrik-leonberg.de

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