Chronik: Von der Alten Schuhfabrik zur Kulturfabrik

200 Jahre Gewerbe, Kunst und Kultur im Herzen der Stadt Wodurch unterscheidet sich die alte Schuhfabrik von anderen Industrie-Hinterlassenschaften? Wie kam es, dass dort seit 40 Jahren Kunst, Kunstpädagogik und kunstnahe Dienstleistungen blühen? Wir haben in einer knappen Chronik die 200-jährige Geschichte des Anwesens Eltinger Straße 11 nachgezeichnet.   Vorläufer: Wohnhaus und Färberei 1821 – 1896   Das heutige Vorderhaus der Alten Schuhfabrik Eltinger Str. 11 (Mitte rechts) um 1860 mit ehemaligem Feuersee. Quelle: Stadtarchiv Leonberg 1821 Der Steinhauer und Werkmeister Jung Heinrich Haueisen errichtet auf der Lamter ein zweistöckiges Haus mit zwei Wohnungen und Scheuer. 1856 Nach Zwischenbesitzern – ein Oberamtsgerichtsbeamter und ein Architekt – kaufen Färber das Anwesen und bauen ein Farbhaus an. September 1896 Als Reaktion auf die unnachgiebige Haltung des Leonberger Schuhfabrikanten Egidius Schmalzriedt während eines Arbeitskampfs in der Schuhfabrik Schmalzriedt in der Bahnhofstraße beschließen ausgesperrte Arbeiterinnen und Arbeiter, ihre eigene Schuhfabrik zu gründen. Oktober 1896 Der „Färbereibesitzer“ Gottlieb Laurer verkauft dem Schuhmachermeister Christian Popp für 19.500 Mark sein Anwesen an der Eltinger Straße 11.   Fabrik: Schuharbeiter-Genossenschaft und Süddeutsche Schuhfabrik 1896 -1977   Historische Ansicht: Die Süddeutsche Schuhfabrik auf einem Briefkopf vermutlich aus den 1930er Jahren. Quelle: Stadtarchiv Leonberg 1896 In dem von Schuhmachermeister Christian Popp erworbenen Anwesen gründen die ausgesperrten Arbeiter/innen eine Genossenschaft und bauen eine eigene Schuhproduktion auf. 1897 Aus unbekannten Gründen wird die Schuharbeitergenossenschaft aufgegeben. September 1897 Ein Kreditgeber, der Backnanger Lederfabrikant Karl Käß, übernimmt das Gebäude Eltinger Straße 11 und die Mitarbeiter der bisherigen Genossenschaft. 1898 Karl Käß lässt an Stelle des abgebrochenen Farbhauses ein massives zweistöckiges Fabrikgebäude errichten: Grundlage für das heutige Aussehen. 1910 Wilhelm Käumlen wird neuer Eigentümer und leitet die Firma über beide Weltkriege hinweg. Er erhöht das Fabrikgebäude um ein drittes Stockwerk und lässt Fabrikschornstein und Kesselhaus entfernen. 1928/29 Käumlen baut neben dem Fabrikgebäude ein Wohnhaus. 1941 Die Inschrift „W.K. 1941“ über dem hinteren Eingang im Hof deutet auf das Bau- oder Umbaujahr des hinteren Anbaus hin. 1946 Zuerst kommt Erich Hägele, Neffe von Karl Käumlen, als Gesellschafter hinzu, gefolgt von Alfred Kercher 1949. 1977 Unter dem letzten Fabrikbesitzer Erich Hägele wird die Schuhproduktion eingestellt.   Freiraum: Frühe Kunstaktivitäten 1980 – 2002   Alte Schuhfabrik Leonberg: Ansicht mit blühenden Kastanienbäumen. Foto: ch 1980 Fabrikbesitzer Erich Hägele vermietet an Studenten der Kunstakademie Stuttgart Räume für Ateliers und Ausstellungen im 2. OG; diese gründen 1981 den „Glaskasten e.V.“. 1984 Der Maler und Grafiker András Markós bezieht eines der Ateliers. Markós ist Initiator der 1983 in Leonberg gegründeten Künstlergemeinschaft „Die Gruppe“ mit unter anderen Hans Mendler, Frederick Bunsen und Gert Fabritius. 1984 bis 1990 (erneut 1996 bis 2007) Frederick Bunsen übernimmt das Atelier des Leonberger Malers Matthias Keller. 1986 Erich Hägele überlässt Markós das EG für Ausstellungen und eine Radierwerkstatt. 1993 Markós gründet mit dem Stuttgarter Galeristen Gerhard Walz den Glaskasten Verlag. Illustre Ausstellungsgäste wie Josef Beuys, Björn Engholm (SPD) und Albert Scarlione (USA). Bis zu seinem Auszug 2002 betreibt Markós u.a. Kunsthandel, Atelier und Druckerei. 1997 Frederick Bunsens Kunstschüler beziehen auf Initiative von Karin Albrecht ein Gemeinschaftsatelier in der ersten Etage.   Künstlerhaus: Ateliers, Fachgeschäft, Kunstschule, Galerie und Kunstnacht 1996 – 2019   Lange Kunstnacht: Das „Künstlerhaus“ in der Alten Schuhfabrik zieht alljährlich Besucherscharen an. Foto: ch 1996 Markós gewinnt den Leonberger Galeristen Dieter Hausner, der im Vorderhaus das Fachgeschäft Bild + Rahmen eröffnet. Hausners Nichte Carina Straub und ihr Team führen seit 2004 das Geschäft weiter. 2000 Die von Matthias Keller 1988 gegründete Jugendkunstschule zieht vom Hof des Albert-Schweitzer-Gymnasiums in die Glaskasten-Räume und wird zur VHS-Kunstschule. 2005 Carina Straub eröffnet im EG der Alten Schuhfabrik ihre „Galerie im Künstlerhaus“ mit Ausstellungen namhafter Künstler, darunter Max Ackermann, Otto Herbert Hajek, HAP Grieshaber und Hans Daniel Sailer. 2006 Seit Einführung der alljährlichen Langen Kunstnacht in der Leonberger Altstadt setzt sich die Bezeichnung „Künstlerhaus“ für die Alte Schuhfabrik durch: Gemeinschaftsateliers, Galerie und vhs-Kunstschule ziehen Besucherscharen aus der ganzen Region an. 2006 Erich Hägele stellt dem Stadtmuseum die erste Etage als Lager für stadtgeschichtlich wertvolle Objekte zur Verfügung. Das dortige Gemeinschaftsatelier wird um zwei Drittel verkleinert. 2007 Nach Frederick Bunsens Auszug übernimmt Chris Heinemann Bunsens Atelier in der zweiten Etage und begründet ein neues Gemeinschaftsatelier. 2015 Nach dem Tod Erich Hägeles (25.04.1912-29.03.2014) verkauft die Erbin „Christoffel Blindenmission Bensheim“ die alte Schuhfabrik an die Stadt Leonberg. 2016 Tobias Kegler eröffnet sein Fotografen-Atelier in der Galerie im Künstlerhaus und unterstützt die Galerie bei den Ausstellungen. 2018 Das Lager des Stadtmuseums im 1. OG der Schuhfabrik wird erneut auf Kosten des Ateliers erweitert. Nach Verhandlungen ziehen Karin Albrecht und Thomas Lang ins 2.OG um.   Alternative zum Abriss: Initiative und Verein für eine Kulturfabrik 2019 Als Reaktion auf Forderungen nach einem Abriss der alten Schuhfabrik treffen sich die Nutzer/innen zu Hausversammlungen und beginnen, die Geschichte aufzuarbeiten. April 2019 Bei der 14. Langen Kunstnacht protestieren die Hausnutzer/innen mit Plakaten im Haus und Stellungnahmen in der Lokalpresse gegen den drohenden Abriss. Juli 2019 Bei einer LaKuNa-Besprechung unterzeichnen mehr als 30 Teilnehmer/innen eine Resolution. Oktober 2019 Übergabe einer Resolution für Erhalt und Sanierung des Leonberger Künstlerhauses mit mehr als 30 Unterschriften von LaKuNa-Teilnehmer/innen an OB Martin G. Cohn. Die Hausnutzer/innen gründen die Initiative Kulturfabrik Künstlerhaus Leonberg (IKKL) und wählen einen Sprecherkreis: Chris Heinemann, Karin Albrecht und Tobias Kegler. Die KZ-Gedenkstätten-Initiative Leonberg solidarisiert sich mit der IKKL. Februar 2020 Die Initiative stellt einen Konzept-Vorschlag für die Umwandlung zur Kulturfabrik vor. November 2020 /  Mai 2021 In zwei Sitzungen einer vom Gemeinderat gebildeten Projektgruppe aus Fraktionsvertretern, Verwaltung und IKKL-Sprecherkreis wirbt die IKKL für ihren Konzept-Vorschlag. Juli 2021 Der Gemeinderat fasst zwei Beschlüsse zur Zukunft der alten Schuhfabrik: 1. Die alte Schuhfabrik soll teilweise saniert werden: das Vorderhaus und eventuell auch der hintere Fabrikanbau sollen abgerissen werden. 2. Die Sanierung soll nicht die Stadt, sondern ein privater Investor übernehmen. August 2021 Die IKKL kritisiert in einem Leserbrief an die LKZ, dass Stadträte in öffentlichen Äußerungen das Projekt Kulturfabrik verschweigen und stattdessen den Eindruck erwecken, als gehe es bei der Sanierung nur um die privaten Interessen von „ein paar Künstlern“. Oktober 2021 14 engagierte Bürger/innen, Mitglieder der Hausgemeinschaft und außenstehende Kulturschaffende,

Rückblick: Was geschah bisher?

Rückblick: Was geschah bisher? Mit dem Tod ihres letzten Eigentümers Erich Haegele am 29. März 2014 ging für die ehemalige Süddeutsche Schuhfabrik an der Eltinger Straße in Leonberg eine Ära zu Ende: Knapp 120 Jahre lang, seit 1896, war sie in Privatbesitz gewesen. Nun wurde sie von den Erben mit Wirkung zum 1. Januar 2015 an die Stadt Leonberg verkauft. Für die zumeist seit Jahrzehnten im inzwischen als Künstlerhaus weithin bekannten Gebäude angesiedelten Nutzer, von den drei Ateliergemeinschaften über den Laden BILD+RAHMEN mit angeschlossener Galerie im Künstlerhaus bis zur städtischen VHS-Kunstschule, änderte sich erst einmal nichts. Die Stadt, die bisher selbst nur einer von mehreren Mietern im Haus gewesen war, übernahm als neuer Eigentümer alle bestehenden Mietverträge. Künstlerische Aktivitäten, Workshops, Ausstellungen, Bild- und Rahmenverkäufe sowie Lehrtätigkeiten liefen wie gewohnt weiter. Abriss-Forderungen Doch ein großes Anwesen in dieser zentralen Innenstadtlage weckt früher oder später Begehrlichkeiten. Nachdem zuvor auf dem lange brach gelegenen Nachbargrundstück, das einst die Privatvilla der früheren Fabrikbesitzer beherbergte, die Seniorenresidenz Seegarten entstanden war, wurden Stimmen laut, die nun einen Abriss des Künstlerhauses forderten. Insbesondere einzelne Sprecher der Freien Wähler und der CDU im Gemeinderat nutzten den sich abzeichnenden Wohnraummangel, um von eigenen Versäumnissen bei der Planung der in direkter Nachbarschaft entstehenden neuen Wohnquartiere auf dem Layher- und Post-Areal abzulenken. Die dort nicht realisierten bezahlbaren Wohnungen werden nun ausgerechnet auf dem Künstlerhaus-Gelände eingefordert. Mit wachsendem Unbehagen verfolgten die Nutzer die teils von populistischen Untertönen durchzogene öffentliche Debatte. Bis Ende 2018 ein provokanter Leserbrief in der örtlichen Tageszeitung zu einer gemeinsamen Stellungnahme (Anm. 1) geradezu herausforderte. Die Stellungnahme wurde ausschnittsweise in der  Leonberger Kreiszeitung (LKZ) wiedergegeben (Anm. 2). Resolution für Erhalt und Sanierung Da die Sichtweise der Betroffenen ebenso wie der kunst- und kulturinteressierten Öffentlichkeit in der bisherigen Debatte so gut wie keine Rolle gespielt hatte, beschlossen die Nutzer, sich von nun an selbst Gehör zu verschaffen. Man traf sich zu Hausversammlungen, diskutierte die lokalpolitische Situation, erarbeitete eine während der 14. Langen Kunstnacht (LaKuNa) im April 2019 mit beträchtlicher Aufmerksamkeit der Besucher und der Lokalpresse vorgestellte Plakataktion zur bewegten Geschichte des Hauses (Anm. 3) und verabschiedete eine Resolution für Erhalt und Sanierung des Künstlerhauses (Anm. 4). Diese wurde Anfang Juli bei der alljährlichen LaKuNa-Besprechung von der überwiegenden Mehrheit der über 40 anwesenden Teilnehmern mit ihrer Unterschrift unterstützt und am 2. Oktober 2019 von einer Delegation der Hausnutzer an Leonbergs Oberbürgermeister Martin G. Cohn überreicht. Gründung der Initiative Kulturfabrik Künstlerhaus Leonberg Um sich einen Eindruck zu verschaffen, welche Potenziale eine künftig für nötig erachtete Öffnung des Leonberger Künstlerhauses für breitere kunst- und kulturinteressierte Kreise freisetzen könnte, besichtigte eine Gruppe im August das Künstlerhaus Stuttgart. Dieses weist eine in Teilen ähnliche Geschichte auf wie sein Leonberger Pendant.   Die gewonnenen Eindrücke mündeten in einen von September bis November unter Leitung des Kurators der Galerie im Künstlerhaus, Tobias Kegler, veranstalteten Inhouse-Workshop. Dabei konkretisierten die Hausnutzer nicht nur ihre Argumente für Erhalt und Sanierung des Künstlerhauses und trugen die Bausteine für eine künftige erweiterte Hausnutzung zusammen. Sie gaben sich auch erstmals einen organisatorischen Rahmen: Im Verlauf der 4. Hausversammlung am 9. Oktober 2019 wurde die Initiative Kulturfabrik Künstlerhaus Leonberg (IKKL) gegründet. Die neue Initiative wird von einem dreiköpfigen Sprecherkreis aus Chris Heinemann (Sprecher) sowie Karin Albrecht und Tobias Kegler (Stellvertreter) nach außen vertreten. Vorschlag für künftiges Nutzungskonzept Parallel hatte das Sprechertrio bereits mit der Erarbeitung eines eigenen Vorschlags für ein künftiges Nutzungskonzept begonnen. Ende Januar 2020 wurde es fertiggestellt und am 24. Februar 2020 an die Verantwortlichen der Stadt Leonberg versandt.